Geht es um Nonnen und Mönche, haben die meisten Klischees im Kopf: Die Geistlichen tragen Kutte oder Schleier, beten den ganzen Tag und verstecken sich hinter Klostermauern. Und dann sieht man ein Video der lebensfrohen Schwester Dorothee auf Instagram und denkt: Moment mal … Im Haus Nazareth direkt neben der Josefkirche erleben wir eine Ordensfrau, die gern singt, unfassbar herzlich lacht und rasant Auto fährt. Seit 60 Jahren gehört sie zu den Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus – und beeindruckt nicht nur mit ihrer Ausgeglichenheit. Ein Gespräch über Zuversicht, Gottvertrauen und 25 Jahre in Krefeld.
Natürlich habe sie „Sister Act“ gesehen, lacht Schwester Dorothee und will gleich wieder in ihre facettenreiche Biografie eintauchen. Denn obwohl sie ihr Alter nicht verraten möchte, weil solche Banalitäten aus ihrer Sicht keine Rolle spielen, weist die Vita der bodenständigen Ordensfrau eine Reihe beruflicher Stationen auf, von denen sie heute mit feinem Blick für Details und der einen oder anderen Träne im Auge berichten wird. Doch es gibt eine erwähnenswerte Szene in dem Film über die Nachtclubsängerin Dolores, die als falsche Nonne in einem Kloster untertaucht: Während die Frauen Rosenkränze auffädeln, sprechen sie über die Situationen, in denen sie ihr Ruf ereilte. Als Dolores gefragt wird, antwortet sie nichtsahnend: „Der Ruf? Was für ein Ruf?“ Damit sie sich nicht enttarnt, erfindet sie rasch ein Herkunftskloster und erzählt, dass sie dort viel für die Armen in der Nachbarschaft getan und sich der sozialen Arbeit verschrieben habe. Und damit ist die fiktive Komödie überraschend nah am Credo der echten Ordensgründerin Franziska Schervier, die früh die Probleme der sozialen Randgruppen in der aufstrebenden Industriegesellschaft erkannte und im Alter von 26 Jahren die Gemeinschaft der Armen-Schwestern vom heiligen Franziskus gründete. Ihr Auftrag lautet noch heute: „Freude und Leid teilen, Wunden heilen und Seelen retten.“
2023 konnte Schwester Dorothee ihr diamantenes Ordensjubiläum feiern, was wegen Corona mehrfach verschoben wurde. Geduldig zählt sie die Stufen auf, bei denen die Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam öffentlich erneuert werden: „Silbern 25 Jahre, golden 50 Jahre, diamanten 60, eisern 70 Jahre und Gnadenjubiläum 75 Jahre.“ Im Grunde wie bei Ehepaaren, schießt es mir durch den Kopf; die Parallelen werden wir noch vertiefen. Entspannt und aufmerksam sitzt die Ordensfrau mit übereinandergelegten Händen da und strahlt eine beneidenswerte Gelassenheit aus. Auf dem einfachen Beistelltisch flackert eine Kerze im Glas, während die gebürtige Sudetendeutsche sich an ihre erste Berufung erinnert. „Mit zwölf habe ich Schwester Berta kennengelernt, eine evangelische Diakonisse. Zu der konnte man immer gehen, wenn man etwas auf dem Herzen hatte. Ich wusste schon: Das möchtest du auch! Aber ich habe das noch für mich behalten, man verrät nicht, wenn es gefunkt hat.“ Ihre Augen funkeln verschwörerisch. Zu dieser Zeit lebt sie im Rheinland, nachdem die ganze Familie aus dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei vertrieben wurde und nach einer beschwerlichen Reise in Hessen unterkam. Sie wirkt unbelastet von diesen Kindheitserlebnissen, die religiöse Erziehung mit regelmäßigen Kirchgängen und Gebeten zu Hause hat offensichtlich für mentale Stabilität gesorgt. Mit ruhiger Stimme erzählt Hildegard, so ihr bürgerlicher Name, von den Fünfzigerjahren. „Nach der Schule habe ich in Osterath erste Erfahrungen in einem Altenheim, einem Kindergarten und als Gemeindeschwester gesammelt. Der katholische Pfarrer brachte mich dazu, weil er meinen Wissensdurst erkannt hatte.“ Sie lächelt verschmitzt.
„Zwei Mal pro Woche bin ich mit der K-Bahn nach Krefeld in die Berufsschule gefahren und habe schließlich die Prüfung in Hauswirtschaft abgelegt“, blickt sie auf die Anfänge ihres Berufslebens. Zurück in Hessen habe es oft in ihr rumort: „Was ist, wenn da noch mehr ist? Gibt es etwas, das mich mehr erfüllt? Wohin geht meine Sehnsucht?“ Als sie mit 17 Jahren den Wunsch äußert, ins Kloster gehen zu wollen, ist ihr Vater dagegen. Erst ein gemeinsamer Besuch im Aachener Mutterhaus des Schervier-Ordens und eine clevere Argumentation der Tochter sorgen für Zustimmung: „Zwei Geschwister hatten sich verlobt, und ich sagte zu Vater, er solle meine ersten drei Jahre im Kloster auch als Verlobungszeit betrachten. Das hat ihn überzeugt, auch wenn es ihm sehr schwer fiel, mich gehen zu lassen.“ Die nun doch sehr kratzige Stimme verrät ihre Emotionen, denn die Regeln der katholischen Kirche waren streng damals: Besuch war nur an drei Tagen im Jahr erlaubt, ansonsten beschränkte sich der Kontakt allein auf Briefe. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil begann Ende 1965 eine zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens. „Das Opfer brachten die Eltern“, resümiert die Ordensschwester gefasst und wischt sich die feuchten Augen. Dass sie selbst auf persönlichen Besitz, Kinder und einen Ehemann verzichtet, um nur für Gott und andere Menschen da zu sein, erwähnt sie nur am Rande. Lieber formuliert sie bedächtig, dass sich Nonnen und Ordensschwestern unterscheiden, auch wenn beide ihre Berufung für und in der Kirche leben: „Eine Nonne lebt kontemplativ, sie konzentriert sich auf religiöse Übungen und führt ein eher beschauliches Leben. Eine Ordensschwester ist dagegen aktiv, engagiert sich in Schulen oder der Krankenpflege und geht mehr hinaus.“
Doch vor dem Weg nach draußen stehen einige Jahre geistlicher Bildung an, in denen eine Novizin zu einer vertieften persönlichen Beziehung zuChristus hingeführt werden soll, um „in voller und freier Hingabe“ Gottes Ruf zu beantworten. Hauptziel sei es, zu menschlicher und geistlicher Reife zu gelangen, betont die Schervier-Schwester: „Man prüft sich und wird geprüft, ob das Leben als Ordensfrau wirklich der eigene Lebensweg ist.“ Als sie 1965 zum ersten Mal nach Hause durfte, habe sie einen Spaziergang mit ihrem Vater unternommen, berichtet Schwester Dorothee mit strahlenden Augen. Auf seine Frage „Bist du auch glücklich?“ konnte sie aus vollstem Herzen antworten: „Ja, ich bin glücklich. Ich gehöre dem lieben Gott.“ 49 Jahre später betört sie nicht nur die Instagram-Fans mit ihrer tiefen Zufriedenheit und rät dazu, sich mehr auf Gott zu verlassen, um glücklich zu sein. „So einfach ist das! So ist mein Leben!“ Es ist gefüllt mit zahlreichen, vom Orden finanzierten Ausbildungen – Krankenpflege, Sozialberatung, Heimleitung und Religionspädagogik – und über das Land verteilten Berufsstationen. Ob im Krankenhaus, als Gründerin einer Sozialstation oder als Leiterin eines Seniorenheims – sie erinnert sich an jeden Posten genau, nennt konkrete Zahlen und berichtet liebevoll von Menschen, denen sie zuhören, helfen und Trost spenden konnte.
Im Mai stand ein weiteres Jubiläum an: Vor 25 Jahren holte Bruder Lukas, damaliger Pfarrer an St. Josef, gleich drei Schervier-Schwestern nach Krefeld, damit sie in der Gemeinde seelsorgerisch und diakonisch wirken. Seitdem teilen sich die Ordensfrauen Dorothee, Maria Augustine und Erentrud ein Gemeindehaus samt kleiner Kapelle; sie beten viel, meditieren, kochen und putzen, wenn sie nicht gerade draußen unterwegs sind. So macht Schwester Dorothee viele Kranken- und Hausbesuche und versieht Lektorendienste in der Kirche St. Dionysius. Seit Corona riefen aber auch viele Menschen an, erzählt sie. In der Adventszeit wird das Arbeitspensum der drei noch intensiver, „denn die Menschen sollen spüren, dass sie gesehen werden“. Für Fernsehen habe sie keine Zeit, sie müsse ja nach dem Abendbrot noch an den Computer, „Verwaltungskram“ erledigen! Ihre Freude und Dankbarkeit, in der Gemeinschaft zu sein, ist förmlich mit den Händen zu greifen. Nach einem Vierteljahrhundert wird das beliebte Trio bald die Seidenstadt verlassen und wieder nach Aachen umziehen. Sie werden auch diese Lebensphase mit Gottvertrauen meistern. Und vielleicht freie Stunden finden für lustige Filme wie „Sister Act“. Denn nicht nur das Lachen bleibt.
Fotos: Felix Burandt